Weg durch Tannen in einem Tal des Schweizer Nationalpark im Sommer

Er ist das grösste Wildnisgebiet der Schweiz, der Nationalpark zwischen Zernez und Val Müstair. Die Natur wird hier seit 1914 sich selbst überlassen, der Mensch ist bloss Besucher. Eine dreitägige Wanderung führt durch die Urlandschaft zu röhrenden Hirschen, neugierigen Murmeltieren, eigenwilligen Steinwüsten und dichten Wäldern.

«Der Schweizerische Nationalpark im Engadin und im Münstertal im Kanton Graubünden ist ein Reservat, in dem die Natur vor allen menschlichen Eingriffen geschützt und namentlich die gesamte Tier- und Pflanzenwelt ihrer natürlichen Entwicklung überlassen wird. Es sind nur Eingriffe gestattet, die unmittelbar der Erhaltung des Parks dienen. Der Park ist der Allgemeinheit zugänglich, soweit es die Parkordnung zulässt.» Was das Bundesgesetz über den Schweizerischen Nationalpark in umständlichem Amtsdeutsch festhält, ist seit 100 Jahren Basis für eine der bestgeschützten Landschaften Europas und für ein einzigartiges Natur- und Wandererlebnis.

Das Murmeli am Wegrand

Die Sache mit der Parkordnung wird dem Wanderer auf grossen Informationstafeln kundgetan, die an den Parkgrenzen stehen; so auch am Eingang zum Val Mingèr, dem Auftakt unserer dreitägigen Tour. Die Wanderwege dürfen nicht verlassen werden, Feuer machen und zelten sind verboten, Blumen pflücken, Pilze und Beeren sammeln und sogar Steine und Tannzapfen mitnehmen ist tabu, Hunde und Bikes müssen draussen bleiben, und rasten ist nur auf bezeichneten Plätzen gestattet. Wer sich nun die Augen reibt, wird unterwegs rasch den Wert dieser Einschränkungen erkennen.

Die Wildtiere vertrauen darauf, dass die Menschen auf den Wegen bleiben. Hirsche, Gämsen, Steinböcke und Murmeltiere lassen sich oft aus unmittelbarer Nähe beobachten. Wer Geduld und Glück hat, macht in den Lüften einen Adler oder Bartgeier aus. Der fehlende menschliche Einfluss zeigt sich auch bei der Flora. Wild, eigenwillig und üppig präsentiert sie sich, über 650 Pflanzenarten sind im Park heimisch.

Berge mit Wiesen und Gesteinen im Sommer im Nationalpark
Im Abstieg von der Fuorcla Val dal Botsch hat man einen tollen Blick auf den Nationalpark.

Begleitet vom Röhren der Hirsche

Das Val Mingèr, auf halben Weg zwischen Scuol und S-charl gelegen, ist einerseits Heimat vieler Rothirsche; zur Brunftzeit im Herbst hallt ihr Röhren durch die Wälder. Wer früh unterwegs ist, bekommt den König der Wälder auch zu sehen. Andererseits fallen zerfallene Alphütten und Kohlemeiler auf. Das Gebiet des heutigen Nationalparks wurde vor seiner Errichtung 1914 intensiv für die Landwirtschaft, die Waldwirtschaft und den Bergbau genutzt.
Der Aufstieg zur Fuorcla Val dal Botsch kostet manchen Schweisstropfen, weniger der Höhenmeter als des rutschigen Geländes wegen. Zwei Schritte vor, einen zurück heisst die Devise. Auf dem 2677 Meter hohen Pass weiss man, wofür man geschwitzt hat: Ein prächtiges Panorama über das ganze Ofenpassgebiet bis weit nach Italien tut sich auf, weit unten grüsst das Tagesziel, das Hotel Il Fuorn. Im Abstieg heisst es Augen offen halten. Gämsen, Hirsche, Steinadler und Bartgeier halten sich gerne im Val dal Botsch auf, auf den steilen Hängen gedeihen Edelweiss, Handwurz, Kugelblume und Alpen-Wundklee.

Im einsamen Spöltal

Das Il Fuorn beherbergt seit Ende des 15. Jahrhunderts Gäste; früher Säumer, Reisende und Bergbauarbeiter, heute Wanderer und Erholungssuchende. Die Küche verwöhnt mit lokalen Spezialitäten, in den Lärchen- und Arvenzimmern tankt man Energie für die lange Etappe des zweiten Tages. Diese startet in Punt la Drossa, dem Tunnelportal ins italienische Zollfreigebiet Livigno. Die ersten drei Stunden führen durch das einsame Spöltal. Der Weg schlängelt sich durch dichte Fichten-, Föhren- und Lärchenbestände und gibt immer wieder schöne Blicke frei auf den Spöl – oder auf das, was von ihm übrig geblieben ist.

Sein Wasser dient der Stromerzeugung im Lago di Livigno. Im Rahmen eines Forschungsprojektes wird er jedoch mehrmals pro Jahr geflutet, um naturnahe Lebensbedingungen zu schaffen. Das Projekt verlief bis Ende März 2013 vielversprechend. Dann löschte eine Panne im Stausee das Leben im Spöl nahezu aus, Tausende Forellen verendeten im Schlamm. Mittlerweile sind die Voraussetzungen für neues Leben im Bach wieder geschaffen.

Blick ins Val Cluozza mit Tannen und Bergen
Im Val Cluozza, dem Herz des Nationalparks, wo vor über 100 Jahren seine Geschichte begann.

Val Cluozza. Wo alles begann

Bei Plan Praspöl verlassen wir das Tal und widmen uns dem kräftigen Aufstieg auf den 2500 Meter hohen Murtersattel. Gämsen, Steinböcke, Murmeltiere und die Aussicht bis zum Ortler warten oben als Belohnung. Nicht weniger steil geht es hinten runter ins Val Cluozza, zur Übernachtung in der urgemütlichen alten Blockhütte.
Im Val Cluozza wurde 1909 der Grundstein zum bislang einzigen Schweizer Nationalpark gelegt. Naturschutzschützer pachteten das Tal von der Gemeinde Zernez für 25 Jahre, die heutige Pro Natura steuerte die Mittel bei. 1914 stimmte sodann die Bundesversammlung der Errichtung eines Nationalparks zu, die Eröffnung erfolgte am 1. August 1914. Der Park ist heute 170 Quadratkilometer gross und erstreckt er sich über die Gemeinden Zernez, S-charl, Scuol, Lavin und Val Müstair.

Berggipfel in der Sonne am Fuorcla Val Sassa
Hochalpiner Abschluss: Die Überquerung der Steinwüste der Fuorcla Val Sassa ist ein einmaliges, aber konditionell anspruchsvolles Erlebnis.

Abschluss gemütlich oder heftig

Zwei Möglichkeiten stehen offen, um das Val Cluozza zu verlassen. Wer noch genügend Kraft hat und trittsicher ist, kann sich an den 7,5-stündigen alpinen Übergang ins Val Trupchun und nach S-chanf wagen, über die Steinwüsten der Fuorcla Val Sassa und den längsten Blockgletscher der Schweiz. Ein unvergessliches Erlebnis. Gemütlicher ist es, durch das Val Cluozza nach Zernez zu wandern und dem Nationalparkzentrum einen Besuch abzustatten. Hier ist auf drei Stockwerken konzentriert, was wir in drei Tagen zu Fuss durchquert haben.

Menschen bei bewölktem Wetter auf dem Murtersattel
Auf dem Murtersattel lassen sich Gämsen, Steinböcke und Murmeltiere aus nächster Nähe beobachten.

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NATURZYT Ausgabe Juni 2014, Text/Fotos Daniel Fleuti

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