Auf der Göscheneralp hat die Natur mit der grossen Kelle angerichtet und eine traumhafte Berglandschaft erschaffen. Der Mensch hat die Szenerie um einen türkisfarbenen Stausee ergänzt, um den ein Wanderweg führt – mit einem Abstecher zur Dammahütte, in die Welt von Fels und Eis.
Beinahe hätten wir die Glocke übersehen. Sie hängt in einem Holzgestell zwischen Parkplatz und Staudamm und erinnert an die Zeiten, als auf der Göscheneralp noch ein Dorf samt Kapelle und Schulhaus stand. Hinteralp hiess der Ort und bot das ganze Jahr über rund vierzig Menschen ein Zuhause und Auskommen. Während des Winters waren sie vom Rest der Welt abgeschnitten.


Die Hinteralp musste 1962 dem Göscheneralp-Stausee weichen
1962 musste Hinteralp dem Göscheneralp-Stausee weichen. Häuser und Kapelle wurden abgebrochen, das Schulhaus zügelte nach Göschenen. Mensch und Tier fanden eine neue Heimat in Gwüest, der benachbarten Alpsiedlung weiter unten im Göschenertal. Als Ersatz für die alte Kapelle errichteten die Kraftwerksbauer in Gwüest ein neues Gotteshaus, ausgestattet mit dem wertvollen Barockaltar aus der alten Kapelle sowie mit zwei der drei Glocken. Die dritte hängt als Erinnerung an die früheren Zeiten in besagtem Holzgestell neben dem Wanderweg beim Staudamm. Der Göscheneralpsee ist, trotz seines künstlichen Ursprungs, ein malerischer See. Türkisblau schimmert sein Wasser, die Farbe passt gut zu den saftig grünen Weiden, den dunkelgrauen Felswänden, den mächtigen Bergen und den leuchtend weissen Gletschern, die ihn umgeben. Und selbst die stattliche Grösse des Sees – er fasst 75 Millionen Kubikmeter Wasser, was dem jährlichen Wasserverbrauch des Kantons Aargau entspricht – ist der Landschaft angemessen. Auf der Göscheneralp ist alles ein wenig gross geraten.

Dank dem Stausee auf der Göscheneralp ist das Wandern überhaupt möglich
Dem Stausee ist es zu verdanken, dass Wandern auf der Göscheneralp überhaupt möglich ist. Auf der engen Fahrstrasse, die in den 50er-Jahren zum Bau des Staudamms angelegt wurde, bringt heute das Postauto Ausflügler ins abgelegene Tal, zum grossen Parkplatz bei der Dammkrone. Dort zieht es die meisten auf den dreieinhalb stündigen Rundweg um den See. Ob man diesen im Uhrzeiger- oder Gegenuhrzeigersinn anpackt, ist einerlei – wir entscheiden gegen die Uhr und erfreuen uns schon bald an einem zauberhaft en Moorsee, in dem sich der Dammastock spiegelt, mit seinen 3630 Metern höchster Berg der Zentralschweiz. Auffallend sind die rostroten Felsen rechter Hand am Bergseeschijen. Die Farbe zeugt vom hohen Eisengehalt im Gestein. Überhaupt ist das Gebiet übersät mit Klüften, Spalten und Rissen. Ein Paradies für Strahler, die nach Kristallen suchen. Und fündig werden, zum Beispiel am Planggenstock unweit des Stausees, wo man auf Exemplare mit bis zu einem Meter langen Kristallspitzen stiess. Sie gehören zu den grössten entdeckten Kristallen im Alpenraum. Bei der Brücke über die Chelenreuss ist das hintere Ende des Sees erreicht und der gemütliche Teil der Wanderung vorbei. Der folgende Abschnitt zur Brücke über die Dammareuss fordert: Es gilt, die steinige Flanke der Moosstöcke zu queren. Die Steine sind gross und grösser, die Schritte werden es notgedrungen ebenso. An ein, zwei schwierigen Stellen helfen Ketten über das Hindernis, ab und an nimmt man die Hände zu Hilfe. So bietet sich Gelegenheit, mit dem Gestein der Urner Alpen Bekanntschaft zu schliessen. Granit ist sein Name. Es gehört zum Aarmassiv und zählt mit seinen 300 Millionen Jahren zu den ältesten im Alpenraum.


Die Dammahütte mit Platz für 20 Personen im nostalgischen Schlafsaal
Bei der Dammareuss rasten wir. Wie könnte man auch anders? Der Wildbach bildet rund um die Brücke ein herrliches Auengebiet, bei einem der vielen Steinblöcke findet jeder seinen Platz mit Blick auf den Dammastock und seinen Gletscher. Den Weiterweg zur Dammahütte? Klar, man könnte von der Dammareuss direkt zum Staudamm und Postauto zurückwandern, hoch über der anderen, rechten Seeseite. Doch man würde viel verpassen. Der Aufstieg fordert zwar nochmals Schweisstropfen, doch der Blick auf die Welt aus Fels und Eis wird mit jedem Schritt eindrücklicher. Oben angelangt, verwöhnen die Hüttenwarte Lydia und Franz Studer mit selbst gebackenem Kuchen und frischem Sirup. Beides ist im Nu verschwunden. Die Dammahütte ist eine Refugium wie anno dazumal. Gerade mal 20 Personen haben im nostalgischen Schlafsaal Platz, die Küche ist in einer Ecke des Gastraums unter gebracht. Ursprünglich stand die Hütte als Musterhaus an der Berner Landesausstellung 1914. Ein Jahr später wurde sie in Einzelteile zerlegt, auf den Berg transportiert und wieder zusammengesetzt. Für den Rückweg bietet sich der Panoramaweg an, der Moräne des Dammagletschers und dem Lauf der jungen Dammareuss entlang. Dreiviertel Stunden Urner Bergwelt pur. Wunderschön. Bei der Brücke über den Wildbach stossen wir wieder auf den Seerundweg. Jetzt gehts auch für uns zurück zum Parkplatz. Das muntere Auf und Ab an den Hängen von Höhenberg und Älprigen kostet die letzten Kraft reserven. Gut, bleibt vor der Abfahrt des Postautos Zeit zur Einkehr.
Tipps und Informationen zur Wanderung auf der Göscheneralp
Wanderroute: Hotel Dammagletscher – Auf dem Berg (linke Seeseite) – Chelenreussbrücke (Punkt 1807) – Dammareussbrücke – Dammahütte. Zurück zur Dammareussbrücke auf dem Panoramaweg, dann auf der rechten Seeseite über Älprigen zum Hotel Dammagletscher.
Variante: Den See umrunden und den Abstecher zur Dammahütte auslassen. Spart gut eineinhalb Stunden Wanderzeit.
Anforderungen: Die Bergwanderung erfordert Kondition und sicheren Tritt. Der Weg ist sehr gut markiert, schwierige Stellen sind gesichert. Wenige Abschnitte verlaufen im weglosen Blockgelände. Die Wanderzeit beträgt gut 5 Stunden.
An- und Rückreise: Mit dem Zug nach Göschenen, dann mit dem Postauto zur Göscheneralp, Hotel Dammagletscher.
Einkehr: Im Hotel Dammagletscher und auf der Dammahütte..
Karten: Swisstopo-Wanderkarte 1:50 000 Blatt Sustenpass (255T); Swisstopo-Landeskarte 1:25 000 Blatt Urseren (1231).
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