Er kostete 457 Menschen das Leben, der Bergsturz, der 1806 auf Goldau donnerte. Heute führt ein eindrücklicher Bergweg durch das Chaos aus Felsblöcken und Föhren. Eine Wanderung mit Tiefgang und Frauenschuhkontakt im Herzen der Zentralschweiz.
2. September 1806. Es regnet einmal mehr in Strömen am Rossberg, dem unscheinbaren Gebirgszug zwischen Zuger-, Ägeri- und Lauerzersee. 1806 ist ein nasses Jahr, genau wie die beiden Jahre zuvor. Das Wetter setzt dem gut 1500 Meter hohen Rossberg zu. Seit Tagen beobachten Holzhauer in der Bergflanke oberhalb von Goldau, dass der Boden aufreisst und sich die Spalten mit Wasser füllen. Die Bäume stehen schief, und man hört weitum das Krachen, wenn ihre Wurzeln zerreissen.
Gegen halb fünf Uhr nachmittags nimmt das Unheil seinen Lauf. Auf einer Breite von 500 Metern und einer Länge von 1500 Metern gerät der Hang in Bewegung und stürzt mit hoher Geschwindigkeit zu Tal. Eine Fläche von sechs Quadratkilometern, das entspricht 840 Fussballfeldern, wird mit 40 Millionen Kubikmetern Gestein zugedeckt. Auf der gegenüberliegenden Talseite schiessen die Felsmassen 120 Meter die Rigi empor, ein Teil schafft es bis in den Lauerzersee und löst dort eine Flutwelle aus. Traurige Bilanz: Die Dörfer Goldau, Röthen sowie Teile von Buosingen und Lauerz werden zerstört. 457 Menschen kommen ums Leben. Bis heute gilt der Goldauer Bergsturz als grösste Naturkatastrophe der Schweiz.

Direkt an der Abrisskante auf dem Gnipen
Frühling 2015. Das Bergsturzgelände wirkt immer noch bedrohlich. Steht man auf dem Gnipen, der zweithöchsten Erhebung des Rossbergs, direkt an der Abrisskante, spürt man förmlich, mit welcher Gewalt vor gut 200 Jahren die Felsmassen zu Tal gedonnert sind. Haushohe Felsblöcke türmen sich im Hang, dazwischen haben sich Bergföhren ihren Platz genommen. Schautafeln erinnern an die Katastrophe, ein stattliches Gipfelkreuz schenkt ein wenig Geborgenheit. Dabei ist das Bergsturzgelände heute ein Hort prallen Lebens: Über 700 verschiedene Blütenpflanzen, Farne und Moose wurden nachgewiesen, unter ihnen besonders viele Orchideen. Die lehmig-feuchte Umgebung scheint ihnen zu behagen.

Der Rossberg ist mittlerweile auch ein beliebtes Wanderziel, nicht nur des Bergsturzes wegen. Der Wildspitz, mit 1580 Metern der höchste Punkt des Gebirgszugs, bietet ein fantastisches Panorama. Dem Gipfel kommt seine Alleinlage zugute, vom Säntis über die Mythen und die Urner und Glarner Alpen bis hin zur Rigi und dem Napf reihen sich die Berge auf, im Talgrund glitzern Zuger-, Ägeri- und Lauerzersee. Zudem lockt das moderne Berggasthaus mit Aussichtsterrasse, hausgemachten Kuchen und regionalen Spezialitäten. Kein Wunder, ist man selbst montags in bester Wandergesellschaft.
Vom Morgarten zum Knabenkraut
Viele Wege führen auf den Wildspitz, unserer startet in Sattel. Das Dorf liegt unweit von Morgarten, wo 1315 die Eidgenossen die Habsburger besiegten. Die Fehde wird gerne als «Mutter aller Schweizer Schlachten» gewürdigt, sie soll den Grundstein gelegt haben zur Freiheit unseres Landes. Nach einer halben Stunde haben wir den Morgarten hinter uns, jetzt rücken die stolzen, noch tief verschneiten Urner Alpen und die markigen Mythen ins Blickfeld. Zusammen mit den blumenübersäten Wiesen, über die unser Weg führt, zeichnen sie ein Bild wie aus einem Werbeprospekt. Löwenzahn, Hahnenfuss, Margriten, Frühlingsenziane und Knabenkraut blühen um die Wette und entschädigen für den schweisstreibenden Aufstieg.

Picknick in Zug oder Schwyz
Der Rossberg scheidet die Kantone Schwyz und Zug. Wer das nicht weiss, wird in regelmässigen Abständen daran erinnert. Der breite Gratrücken ist reich bestückt mit stattlichen Grenzsteinen. Beim Rastplatz auf der Langmatt kann man sogar wählen, in welchem Kanton man picknicken möchte – die Aussicht auf der Schwyzer Seite ist definitiv die attraktivere.
Der langgezogene Grat bringt uns über den Wildspitz an den Rand des Abgrunds, zu besagtem Gipfelkreuz auf dem Gnipen. Hier müssen wir uns entscheiden: Direktabstieg nach Goldau durch den Bergsturz oder in einem weiten Bogen über die Wiesen des Ochsenboden. Der Bergsturz lockt und fordert bald schon seinen Tribut. Der Hang besteht aus Nagelfluh und Mergel, der Untergrund ist rutschig und lebendig. Jeder Schritt wird mit Bedacht gewählt, langsam geht es vorwärts.

Vor Ober Spitzibüel blüht der Frauenschuh
Die Belohnung für die Strapaze folgt kurz vor Ober Spitzibüel: Am Wegrand blüht der Frauenschuh in voller Pracht. Nicht einer, sondern Dutzende. Das versöhnt mit dem Weg, der bis nach Goldau noch einiges an Kraft kostet.
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NATURZYT Ausgabe Juni 2016, Text / Foto Daniel Fleuti