Von Bio bis Biene, von Nachhaltigkeit bis Stadtgarten: Der urbane Siedlungsraum wird immer mehr zum Gemüsegarten. Dank Urban Gardening wachsen vermehrt Tomaten im Balkonkistli und Salate inmitten der Hochhaussiedlung. Denn heute gilt: Die Stadt der Zukunft ist essbar.
Speisepilze kultiviert auf Kaffeesatz, Hochbeete auf Flachdächern und Honig von Stadtbienen: Was in anderen europäischen Grossstädten schon kräftig floriert, hat auch in der Schweiz zu keimen begonnen – Urban Gardening. Das Konzept: Es werden überall in den Städten essbare Pflanzen angebaut und alltägliche Alternativen für den Lebensmittelkonsum angeboten. Allein im Kanton Basel-Stadt stehen heute über 85 Projekte zur Auswahl – alle unter dem Dach des Vereins «Urban Agriculture Basel». Ähnliche Angebote existieren auch in anderen Schweizer Städten – die meisten dieser Projekte setzen dabei auf gemeinschaftliches Gärtnern.
So etwa auch der Gemeinschaftsgarten Landhof in Basel, in dem ganz unterschiedliche Menschen zum Gärtnern zusammenkommen, um mit ihren Fähigkeiten und Ideen etwas Positives zu gestalten. In dem in der Nähe der Messe angelegten Gemeinschaftsgarten gedeihen Kohl, verschiedene Salate, Kohlrabi, Gurken, Tomaten, Zucchetti, Bohnen, Haferwurzel, Erdmandel und Kichererbsen. Gepflanzt wird, worauf man gerade Lust – auch verschiedene Kräuter, Wildkräuter sowie zahlreiche Beeren und Feigen können hier im Frühling und Sommer geerntet werden. Einige Gemüsearten dürfen sich über Samen in den Beeten ausbreiten: Haferwurzel, aber auch Nüsslisalat findet man überall im Gemeinschaftsgarten.

Kreisläufe in der Natur unterstützen
Auch die Beikräuter spriessen kräftig: Auf den Beeten breitet sich das Persische Ehrenkraut aus, dazwischen zeigt Löwenzahn seine buttergelben Blüten. Was konventionellen Hobbygärtnerinnen und -gärtnern ein Dorn im Auge ist, freut die Gemeinschaftsgärtnerinnen, denn die Beikräuter decken den Boden ab, so lange er nicht genutzt wird. Dadurch werden die Bodenlebewesen geschützt, und die oberste Bodenschicht bleibt fruchtbar und intakt. Liegt Boden brach, wird er gerne ausgeschwemmt, weshalb die ungenutzten Beete während des Winters mit einer dicken Laubschicht geschützt werden. Auch Gründüngungen mit Ölrettich oder Phacelia dienen diesem Zweck.
Der Gemeinschaftsgarten liegt geschützt zwischen Wohnblöcken und am Rand des namengebenden Landhofs, des ehemaligen Stadions des FC Basel. Das Areal stand aufgrund einer Umnutzung 2011 leer – die Stadt Basel suchte deshalb nach einem möglichen Temporärprojekt. Der gemeinnützige Verein «Urban Agriculture Basel» erhielt den Zuschlag mit der Idee, einen Gemeinschaftsgarten für die Quartierbewohnerinnen und -bewohner anzulegen. Der Gemeinschaftsgarten Landhof ist nur eines von zahlreichen Projekten, die im Rahmen des Vereins entstanden.

Zahlreiche Helferinnen und Helfer
Ziel ist, dass die Bevölkerung aktiv am Projekt partizipiert und die Koordination übernimmt. Jeden Mittwoch und Freitag Nachmittag wird im Gemeinschaftsgarten gemeinsam gegärtnert, meistens unter der Leitung einer Fachperson. Samstags trifft man meist selbständig Gärtnernde an, mit denen man sich austauschen kann. Nach einer Einführung durch die Gartenleitung darf man selbst jederzeit mit anpacken.
Obwohl der Gemeinschaftsgarten erst als Übergangsprojekt geplant war, ist er heute ein fester Bestandteil des Quartiers und ein beliebter Treffpunkt. Regelmässige Helferinnen und Helfer aus der nahen Nachbarschaft sind hier gerne aktiv. Für die Freiwilligen ist die Mitarbeit weder verpflichtend noch bindend – man hilft , wenn man Lust und Zeit hat. Dies ist wahrscheinlich auch das Erfolgsrezept des Gemeinschaftsgartens: Der Garten wird umso vielfältiger, je mehr Menschen zu seinem Erhalt und seiner Entwicklung beitragen. Die Oase in der Grossstadt ist für viele Garteninteressierte inspirierend und bringt den Städterinnen die Natur und deren Kreisläufe näher.

Mein Garten, mein Reich
Nicht nur in Basel, auch in Zürich, Bern und Luzern hat sich in den letzten Jahren eine junge, aktive Urban-Gardening-Szene entwickelt. Das Angebot für engagierte Hobbygärtnerinnen und -gärtner beschränkt sich dabei nicht auf Gemeinschaftsgärten, sondern beinhaltet auch Gartenkurse, Mietbeete oder Bienenhaltung. Gemeinsames Lernen, die Vermittlung von Wissen und das Schaffen von Bewusstsein sind weitere zentrale Aspekte. Neben der gemeinsamen «Feldarbeit» bieten viele Projekte auch ein kulturelles Programm und verschiedene Workshops an. Was in den letzten Jahrzehnten wieder zu wachsen begonnen hat, ist aber keineswegs ein neues Konzept: Die Wurzeln des Stadtgärtnerns reichen weit zurück – von den hängenden Gärten der Semiramis über die Alhambra bis zu den barocken Parkanlagen von Versailles wurden weder Kosten noch Mühen gescheut, um grüne Paradiese ganz nach eigenen Vorstellungen erblühen zu lassen. Daran hat sich auch im dritten Jahrtausend nichts geändert: Der Wunsch des Menschen nach einem eigenen Garten ist im Zeitalter von Social Media ungebrochen und hat sich von der ländlichen Beschaulichkeit nun auch in die hektischen Ballungszentren ausgeweitet. Ob im schattigen Hinterhof, auf der Dachterrasse oder dem schmalen Balkon – das eigene grüne Paradies wird auch an den unmöglichsten Orten erschaffen.
Die roten Geranien weichen dabei Salat, Kräutern und Tomaten: Die steigende Popularität für Urban Gardening hängt auch mit dem Wunsch nach Selbstversorgung, dem Vegetarismus und Veganismus sowie der erhöhten Sensibilität für Umweltbelange zusammen.
Neben dem Selbstversorgungsgedanken gilt es aber auch, die neue Philosophie des «slow living» umzusetzen. Das Keimen, Wachsen und Ernten zu erleben, zeigt den Menschen in der Hektik des Alltags, dass nicht alles von heute auf morgen geht, und macht sie wieder zu erdverbundenen Wesen. Urban Gardening ist deshalb sinnstiftende Tätigkeit, umweltschonende Produktion und bewusster Konsum der landwirtschaftlichen Erzeugnisse in einem.

Kräuter im Tetrapack, Gemüse im Einkaufswägeli
Töpfe und Kisten für den Anbau der selbst gezogenen Gemüse- und Früchtefülle dienen zwar dem Zweck, sind aber etwas überholt. Denn das Recyceln und Zweckentfremden ausrangierter Materialien findet heute auch im Garten Anklang. Das Gemüse wächst in ausgemusterten Plastik-Brotkisten, Kartoffeln spriessen in Reissäcken und Kräuter in ehemaligen Milchtüten. Und in ausrangierten Einkaufswägeli werden mobile Kleingärten angelegt: Mit einer durchlässigen Plastikplane ausschlagen, Erde rein und fertig ist der eigene Gemüsegarten oder das bunte Blumenbeet.
Neben der Selbstversorgung gilt es beim Urban Gardening aber auch, die Natur zurück in die Stadt zu bringen und graue Häuser in eine grüne Oase zu verwandeln. Schmucklose Fassaden werden mit Kletterpflanzen begrünt. Daneben bietet der Fachhandel zahlreiche Systeme, um auch an vertikalen Flächen wie etwa der Hausmauer Blumen oder Gemüse anzubauen. In den Ballungszentren wird der Platz für die Natur immer knapper, und indem man auch Mauern als Anbaufläche nutzt, kann mehr Grünfläche und somit ein besseres Mikroklima geschaffen werden.

Willkommen, Herr Igel - Die Wildtiere kehren zurück
Die Rückkehr der Natur in die Siedlungsräume ist jedoch nicht länger nur Pflanzen vorbehalten, sondern schliesst auch Tiere ein. Insektenhotel, Igelhaus oder Nistkasten sind nicht nur Symbole, sie zeigen, dass die Menschen sich auf die Umwelt besinnen und sich selbst als Teil der Ökologie sehen. Damit die tierischen Mitbewohner auch genügend Nahrungsquellen und Unterschlüpfe finden, halten immer öfter einheimische Wildpflanzen Einzug in Gärten und auf Balkone. Das lohnt sich: Forschende der Universität Basel konnten in einer aktuellen Studie nachweisen, dass gerade Gärten im Stadtgebiet eine bemerkenswerte Artenvielfalt beherbergen können. In den 35 untersuchten Gärten in der Region Basel wiesen sie insgesamt 254 verschiedene Insektenarten nach. Wer auf seinem Stadtbalkon und City-Garten ein besonderes Augenmerk auf Pflanzen legt, die bei Insekten beliebt sind, leistet deshalb einen wichtigen Beitrag für mehr Natur im Siedlungsraum. Zusätzlich benötigen Schwalbenschwanz, Rosenkäfer und Co. auch Rückzugsmöglichkeiten in Form von Stein- oder Asthaufen sowie winterliche Strukturen wie stehengelassene Pflanzenstängel. Als wichtigster Grundsatz gilt dabei aber: Wer die Insekten fördern will, verzichtet auf das Ausbringen von Pestiziden.

Pflücken erlaubt
Nicht zuletzt sind städtische Gärten auch Mini-Modelle für die Städte der Zukunft , in denen Nahrungsmittelanbau und Stadt leben wieder stärker miteinander verwoben werden. Urbane Landwirtschaft schont Umwelt und Ressourcen, indem Transportwege für Nahrungsmittel eingespart werden, und von Grünflächen aufgebrochene Betonwüsten leisten einen Beitrag zur Verbesserung der Lebens- und Luftqualität. «Essbare Stadt» heissen heute jene Ballungszentren, die ihr öffentliches Grün statt mit Stiefmütterchen und Begonien mit Gemüse bepflanzen. Die deutsche Stadt Andernach hat die Idee bereits erfolgreich umgesetzt: Städtische Grünflächen werden dort seit 2008 für eine urbane Landwirtschaft genutzt und die Einwohnerinnen und Einwohner können bei der Pflege mitwirken und von der Ernte profitieren. Statt «Betreten verboten!» heisst es neu «Pflücken erlaubt!». Auch Schweizer Städte werden dank privater Initiativen und der Unterstützung durch die Stadtverwaltung immer essbarer.
Während das Urban Gardening eher als eine Form der Selbstversorgung im Privaten verstanden wird, steht bei essbaren Städten der öffentliche Raum im Vordergrund. Dass sich Städte zukünftig vermehrt an der Lebensmittelproduktion beteiligen, ist auch ein Anliegen der Initiative Milan Urban Food Policy Pact (MUFPP). In Europas Grossstädten drohen zwar aktuell weder Versorgungskrisen noch Hungersnöte. Expertinnen und Experten raten jedoch auch in unseren Breiten zu einer stärkeren «Widerstandsfähigkeit» in der Lebensmittelversorgung. Denn das Fehlen regionaler Versorgungsalternativen, die geringe Vorratshaltung im Handel und in privaten Haushalten haben zu einer starken, einseitigen Abhängigkeit von den kommerziellen Lieferketten der Supermärkte und Handelskonzerne geführt. Vor diesem Hintergrund haben anlässlich der Expo 2015 in Mailand deshalb mehr als 100 Städte weltweit den Milan Urban Food Policy Pact (MUFPP) unterzeichnet, in welchem sie sich zu einer nachhaltigen und zukunftsfähigen Ernährung bekennen. Auch die Schweizer Städte Basel, Genf, Lausanne und Zürich haben das Abkommen unterzeichnet.
Mehr Informationen zum Urban Gardening:
Milan Urban Food Policy Pact
www.milanurbanfoodpolicypact.org
Verein Urban Agriculture Basel
www.urbanagriculturebasel.ch/
Infos zum Urban Gardening in der Schweiz
www.stadtwurzel.ch
Literatur
Rebellen der Erde Wie wir den Boden retten und damit uns selbst! Benedikt Bösel
ISBN: 978-3-95803-560-7 Scorpio Verlag 2023 ca. CHF 30.–
Permakultur leben Denken wir die Welt neu mit permakulturellen Prinzipien Sabrina Wagner
ISBN: 978-3-7066-2966-9 Löwenzahn Verlag 2023 ca. CHF 40.–
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NATURYZT Ausgabe Dezember 2023, Text Helen Weiss Fotos Envato, pxhere.com, Helen Weiss, Dominique Ochsner