Sie geniessen einen eher zweifelhaften Ruf: Schon die Germanen brachten sie mit der Todesgöttin Hel in Zusammenhang, weshalb sie als Unheilsboten galten. Und laut Volksmund stibitzen Elstern notorisch. Doch wie so oft: Wissenschaftlich haltbar ist dieser Vorwurf nicht. Das schlechte Image haftet dem intelligenten Vogel also zu Unrecht an.
«Es gibt Vögel, die einen grossen Hang zum Stehlen haben. Die Elster trägt alles, was glänzt, weg und verfährt dabei sehr vorsichtig und schlau», hielt der englische Naturforscher William Bingley 1810 in seinem Buch «Biographie der Thiere» über die Elster (Pica pica) fest. Doch nicht erst im 19. Jahrhundert wurde dem hübschen Vogel Übles nachgesagt: Schon bei den Germanen war die Elster die Gefährtin der Todesgöttin Hel. Ihren Ruf konnte die Elster auch im Mittelalter nicht aufpolieren: Dort wurde sie zum Galgenvogel und Hexentier. Vermutlich hat kaum ein anderer Vogel einen derart schlechten Ruf wie die Elster. Sie gilt als Nestplünderer und Vogelmörder, soll geschwätzig sein und Unglück bringen. Und sie stiehlt. Mit Vorliebe Schmuck und andere kleine glänzende und glitzernde Gegenstände, um diese in ihrem Nest zu horten. Dieser Volksglaube ist so verbreitet, dass die Elster fast schon zum archetypischen Dieb geworden ist. Die Zuschreibung dieser Laster an die Elster hält Christoph Vogel für alles andere als fair. «Es ist erstaunlich, wie sich aufgrund vereinzelter Beobachtungen die Redensart über die diebische Elster so fest in Literatur, Alltagssprache und Musik festsetzen konnte», meint der Rabenvogelexperte und pensionierte Mitarbeiter der Schweizerischen Vogelwarte Sempach. Wahrscheinlich geht der Volksglaube auf Spielereien von Elstern mit glänzenden Objekten zurück. Dabei muss es sich laut dem Fachmann um Vögel gehandelt haben, die falsch geprägt im menschlichen Umfeld lebten. Denn der wissenschaftliche Nachweis eines diebischen Naturells der Elster fehlt: Im Rahmen einer grossangelegten Studie zur Brutbiologie wurden in Polen rund 500 Elsternnester kontrolliert. «In keinem einzigen wurden Schmuck oder andere glänzende Objekte gefunden», weiss Vogel. Bei gezielten Experimenten mit freilebenden Elstern konnte zudem gezeigt werden, dass von glänzenden Objekten keinerlei Attraktion für die Vögel ausgeht (siehe nachfolgend).
Diebisch wie eine Elster - oder eben nicht
Was ist eigentlich dran an dem Gerücht, dass Elstern diebisch sind und alles fortschleppen, was funkelt und glitzert? Eine räuberische Veranlagung ist nicht die Ursache für dieses Verhalten. Trotzdem wurde die diebische Elster zum geflügelten Wort, Gioachino Rossini widmete ihr sogar eine eigene Oper. Doch wie Wissenschafter um Toni Shephard von der englischen Universität Exeter ermittelten, geriet die Elster offenbar ohne eigenes Zutun in Verdacht. Um die scheinbaren kriminellen Neigungen der vermeintlichen Diebe genau ins Visier zu nehmen, machten die Wissenschafter Versuche – sowohl mit Elstern in Gefangenschaft als auch mit Tieren, die zwar in Freiheit leben, aber auf dem Campus der Universität die Nähe zu Menschen gewohnt waren.
Kein Interesse an Schrauben
Die Vögel wurden zunächst regelmässig an festen Orten gefüttert. Nach einiger Zeit stellten die Forscher in etwa 30 Zentimeter Entfernung der Futternäpfe zwei Schälchen auf. Im einen Gefäss befanden sich Schrauben und Ringe in glänzendem Originalzustand, im anderen waren sie dagegen mit matter Farbe bemalt. Das Ergebnis: Die Vögel zeigten kein Interesse an den Gegenständen, unabhängig von ihrem Aussehen. Teilweise reagierten die Elstern sogar ängstlich auf die offerierten Gegenstände. Die Furcht legte sich erst nach mehreren Versuchsdurchgängen. Die Vorsicht zeigte sich unter anderem darin, dass es länger dauerte, bis sich die Elstern an den Futternapf heranwagten. Bei anderen Vögeln wie dem Schwarzmilan ist dagegen die Vorliebe für glänzende Gegenstände belegt. Es ist deshalb durchaus verwunderlich, dass es ausgerechnet zum angeblich diebischen Naturell der Elster bislang kaum Untersuchungen gab.

Elster sind Intelligent und Lernfähig
Ihr Hang zum Stehlen ist also frei erfunden. Die Intelligenz und Lernfähigkeit gesteht man der Elster hingegen zu Recht zu, denn ihr Gehirn gehört zu den höchstentwickelten unter den Singvögeln. Letzteres kann etwa beobachtet werden, wenn ein Elsternpaar eine Katze oder einen am Tag aktiven Fuchs abwechslungsweise so lange ärgert, bis das Tier verzweifelt das Weite sucht. «Das ist nicht etwa ein Ausdruck von Bösartigkeit, sondern der Versuch, einem möglichen Raubfeind das Leben so schwer wie möglich zu machen, damit er die Nestumgebung dieses Paares in Zukunft möglichst meidet», erklärt Vogel.
Weitere erstaunliche Leistungen wurden zudem in Laborexperimenten nachgewiesen: Im Rahmen des Spiegelexperiments erkannten sich einige Individuen im Spiegel wieder – doch nicht allen Elstern gelang dies. Wissenschaftlich bewiesen ist ebenfalls, dass eine Elster bis sieben zählen kann; zu dieser Leistung ist im Vogelreich nur noch der Amazonaspapagei und der Kolkrabe in der Lage. Auch ein Beispiel aus dem früheren Berufsalltag Vogels an der Vogelwarte Sempach beweist die Intelligenz des schwarzweissen Genies: «In der Pflegestation durchschaute eine Elster den Schliessmechanismus der Voliere, konnte den Riegel von innen anheben und entfliehen», erinnert sich Vogel.

Die Elster zog vom Land in die Stadt
Trotz ihrer überragenden Intelligenz und ihres unverwechselbaren Aussehens – mit ihren weissen und metallisch glänzenden schwarzen Federn ist sie kaum zu übersehen – gewann die Elster nie dieselbe Sympathie wie die putzige Bachstelze oder der elegante Storch. In Europa wurde sie zeitweise gar so stark bejagt, dass sie vom Aussterben bedroht war. Mitte des letzten Jahrhunderts erlebte die Elster zudem eine ganz andere Krise. Ihre ursprüngliche Heimat, die offenen Kulturlandschaften, veränderte sich von Grund auf: Hecken wurden beseitigt, Grünland umgepflügt und Wegränder totgespritzt.
Die Charaktervögel der naturnahen, abwechslungsreichen Landschaft mussten ausweichen. Es zog sie in Gartenvororte und in die Parks der Städte – eine gute Wahl, wie sich herausstellte, denn ihr Bestand hat wieder zugenommen, wie Vogel bestätigt. «Im Siedlungsgebiet profitiert die Elster von reich strukturierter Umgebung, von der Abwesenheit grosser Greifvögel und fehlender Jagd», erklärt Vogel. In den Städten findet der Vogel mit dem schillernden Gefieder zudem das ganze Jahr über bestes Futter auf Komposthaufen und in Abfallkörben, kann Picknickreste auf Parkwiesen sammeln und überfahrene Tiere an Strassenrändern aufpicken.

Ein unwillkommener Gartengast
Zur Aufzucht des Nachwuchses ist die Elster auf tierische Proteine angewiesen – neben Aas, Käfern und weiteren Insekten stehen auch Jungvögel auf ihrem Speiseplan, was für Unmut bei vielen Gartenbesitzerinnen und -besitzern sorgt. «Es stimmt, dass Elstern Eier und Nestlinge kleinerer Singvögel erbeuten», bestätigt Vogel. Sich um den Fort bestand der heimischen Singvögel sorgen müsse man sich deshalb aber nicht: «Die Interpretation der Beobachtung, wonach die Elster Singvögel dezimiert oder gar ausrottet, ist Quatsch und nervt durch dauernde Wiederholung », stellt der Experte klar. Alle Rabenvögel würden eine Brut pro Jahr machen, kleinere Singvögel meistens zwei oder sogar drei. «Verluste können sie ausgleichen.»
Eine ökologische Faustregel besagt, dass die Menge verfügbarer Beute an Pflanzen, Früchten, Kleintieren und Aas die Populationen der Konsumenten kontrolliert, und nicht umgekehrt. Vogel: «Diese Beziehung lässt sich in allen Nahrungsnetzen beobachten.» Ein gezieltes Experiment in der Kulturlandschaft im deutschen Saarland mit Totalabschuss von allen Raubtieren, Greif- und Rabenvögeln habe eindeutig belegen können, dass die oben genannte Behauptung falsch sei. «Für mich als Ökologe ist es unerträglich, wenn aus Unkenntnis und als Folge eines naiven Naturverständnisses aus einem komplizierten Gefüge einzelne Beziehungen herausgegriffen und Sympathien und Antipathien verteilt werden. Elstern und Krähen können gar nicht anders.»


Elstern haben unterschiedliche Sozialformen
Dank dem reichen Nahrungsangebot in den Städten besteht keine Not fortzuziehen. Doch die Elster ist ohnehin äusserst standorttreu: Hat ein Elsternpaar erst einmal ein Revier gewählt, so bleibt es diesem – sofern die Bruten erfolgreich verlaufen – zeitlebens treu. «Elstern bewohnen und verteidigen ihr Revier gegen Artgenossen übers ganze Jahr, am intensivsten vor und während der Brutzeit», erklärt Vogel. Dabei kommentieren die Vögel mögliche Gefahren mit dem typischen Schackern, ein lautes «tschaktschak », das vom Partner oft mit einem weittragenden «tschirk» beantwortet wird. Auch nicht brütende Vögel gebrauchen diesen kurzen, abgehackten Ruf, wenn Gefahr droht. Diese geht bei der Elster, die von der Schnabel- bis zur Schwanzspitze fast einen halben Meter misst, meist von den eigenen Reihen aus. Vogel: «Etwa von Artgenossen aus Nichtbrüterschwärmen, die versuchen, Revierinhaber zu vertreiben.» Daneben zählen auch die Rabenkrähe als Nesträuberin, Habicht, Wanderfalke und Baummarder, Rotfuchs, Hauskatze und Steinmarder zu den Feinden.
Elstern leben in zwei verschiedenen Sozialformen: Einerseits verbringen Brutpaare während der Brutsaison die Zeit in ihren eigenen Revieren, abseits von den Artgenossen. Im Winter dagegen bilden die schwarz -weissen Rabenvögel insbesondere an geeigneten Schlafplätzen Scharen von einem Dutzend bis zu 100 Vögeln. Nichtbrüter schliessen sich auch im Sommer zu derartigen Scharen mit bis zu 13 Vögeln zusammen.

Der Elster grösster Feind ist der Mensch
Die Paarbildung erfolgt unauffällig in diesen Nichtbrüter-Schwärmen. Verpaarte Vögel beginnen bereits im Herbst, gemeinsam mögliche Brutplätze zu inspizieren, und bauen ab Februar zusammen ein eindrucksvolles Kugelnest. Die überdachten Reisighaufen werden meist unter grossem Gezeter in hohen Bäumen errichtet. Die Brutzeit ist zwischen April bis Juni: Das Weibchen legt etwa vier bis sieben Eier. Nur rund die Hälfte aller Bruten ist von Erfolg gekrönt. Die andere Hälfte fällt Nesträubern oder der Zerstörungswut des Menschen zum Opfer. Leider zerschiessen Jäger oftmals die Nester und die Gelege der Elstern. Auch auf die adulten Tiere wird weiterhin Jagd gemacht: Laut der Eidgenössischen Jagdstatistik wurden allein 2016 über 1000 Elstern abgeschossen. Vogel: «Zu den grössten Feinden dieser eleganten, schlauen und zu Unrecht unbeliebten Vögel zählen Jäger mit ihrer antiquierten Manie, ‹Missstände› in der Natur mit der Flinte korrigieren zu müssen.»
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NATURZYT Ausgabe September 2023, Text Helen Weiss, Fotos Adobe Stock